Ist die Maschine schlauer als der Mensch?
Christian Fehrlin: Das ist die grosse Frage. Wir begreifen künstliche Intelligenz als einen Zweig der Informatik, der sich mit der Automatisierung von intelligentem Verhalten befasst. Noch streiten wir aber darüber, was genau eigentlich Intelligenz ist. Vermutlich wird es irgendwann möglich sein, dass die Maschine Kreativität, eigene Logikstränge und Selbstbewusstsein aufbauen kann, aber das wird noch eine Weile dauern. Muster zu interpretieren klappt dagegen schon sehr gut. Und das ist offen gestanden auch viel gefährlicher als die reine Analyse.
Inwiefern?
Menschliche Muster zu adaptieren, heisst auch, sie manipulieren zu können. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im
Kino. Sie wissen, dass die vorgespielten Gefühle ein Fake sind – und dennoch fühlen Sie als empathisches Wesen mit der Schauspieler:in mit. Wer den kleinen Roboterhund Aibo erlebt hat, weiss, dass sein Winseln bei uns echtes Mitleid erzeugt hat.
Ich denke, dass die Maschine künftig immer mehr zu unserer täglichen Begleiterin wird, die uns fröhlich manipuliert und sicherstellt, dass wir gut drauf sind.
Sprachassistent:innen werden es sein, die uns täglich gut zureden, uns an Trainingseinheiten erinnern und in Krisen die richtigen Worte finden. Später ist es denkbar, dass Roboter das alles übernehmen werden.
Und zack, tauchen vor meinem geistigen Auge Bilder vom bösen Hausrobo auf, der mich nachts um die Ecke bringt.
Da können wir uns entspannen, zumindest, solang wir funktionierende Demokratien haben. Wir haben Gesetze, die Fragen nach Meinungsfreiheit, Datenschutz und Persönlichkeitsrechten sichern, und Regierungen, die Kontrollmechanismen unterliegen und keine meuchelnden Roboter losschicken. Unsere Ängste liegen vor allem darin begründet, manipuliert, ausgeliefert und überwacht zu werden. Dank KI können wir immer grösser werdende Datenmengen auswerten und entsprechende Rückschlüsse ziehen.
Das geht dann schon irgendwann in die «Minority Report»-Richtung, wo Computersysteme unsere Handlungsweisen voraussagen können – das ist so faszinierend wie gruselig. Insgesamt heisst es: wachsam bleiben.
Nicht umsonst gibt es Professuren in angewandter Ethik, die sich mit dem Einsatz von KI befassen – überbewertet
oder dringend notwendig?
Extrem wichtig. KI braucht staatliche Regulierungen, klar abgesteckte Einsatzgebiete und definierte Grenzen. Zumal die Lernkurve enorm ist. Nehmen wir Boston Dynamics, das als eines der am weitesten fortgeschrittenen Robotik-Unternehmen der Welt gilt. Seine Spezialität sind autonome Laufroboter, die viele militärische Aufgaben übernehmen. In puncto Bombenentschärfung etwa sind sie top.
Allerdings ist das US-Unternehmen damit auch stark finanziell abhängig von der DARPA, dem Forschungszweig des amerikanischen Militärs. Die sehen entsprechend zu, dass die Roboter vor allem waffentauglich gemacht werden – daran ändern auch die ganzen lancierten Werbe-Videos von lustig tanzenden und sportelnden Robotern nichts.
Wie sieht es mit dem Einsatz selbstfahrender
Autos aus?
Für mich das Grösste! Im Einsatz sind sie ja schon. In Arizona kann man bereits selbstfahrende Taxis bestellen und in Kalifornien hat die Google-Tochter Waymo ebenfalls selbstfahrende Autos im Einsatz. Damit wären völlig neue Verkehrskonzepte möglich. Der Staat könnte den Besitz von Autos verbieten, sämtliche Busse und Züge entsorgen und stattdessen drei Millionen selbstfahrende Elektro-Fahrzeuge einsetzen: ein individualisierter ÖV, in dem ich per App mein Ziel mit Wunschzeit eingebe, und die KI übernimmt die Organisation der Reise.
Wie sieht denn die rechtliche Lage aus? Wer zahlt, wenn es einen Unfall gibt?
Verantwortlich ist bislang immer noch die Person am Steuer und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Es stellt sich aber künftig schon die Frage der Produkthaftung, und ich gehe davon aus, dass es entsprechende Gesetzesänderungen geben wird. Denn wenn es kein Steuerrad mehr im Fahrzeug hat, existieren auch keine Fahrer:innen mehr.
Ich bin sicher, dass der Staat irgendwann das Autofahren verbieten wird. Versicherungstechnisch ist das einfach viel zu gefährlich.
Inwiefern?
Autofahrer:innen verursachen im Schnitt alle neunzig Millionen Kilometer einen fatalen Unfall, das selbstfahrende Auto dagegen erst auf 130 Millionen Kilometern. Und die Lernkurve geht steil nach oben. Es wird also bald schlicht nicht mehr zu verantworten sein, Menschen ans Steuer zu setzen.
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Quelle: “Insgesamt heisst es: Wachsam bleiben”, in “Annabelle” Nr. 18/2021, Interview: Sarah Lau.